EBERHARD HAHNE
Photojournalist
Lourdes
Wenn die Wunder enden
Von Kai Horstmeier (Text) und Eberhard Hahne (Fotos)
Die Zeit der Wunder endet in Lourdes im Oktober. Jahr für Jahr, dann verlassen die letzten Pilger den Wallfahrtsort in den französischen Pyrenäen - die Hotels werden renoviert und die heiligen Stätten geschrubbt. Bis im nächsten April die Gläubigen aus aller Welt erneut zusammenströmen.
Wenn der heiligen Jungfrau im Herbst die Wunder ausgehen, fängt Monsieur Joubert mit dem Rechnen an. Der schmächtige Mann in den fünfzigern sitzt dann in seinem Büro im hinteren Teil des Bahnhofs von Lourdes und wühlt sich durch die Zahlenberge: Hunderte Pilgerzüge zählt er jedes Jahr, Hunderttausende seien durch die Bahnhofshallen getrampelt, gerollt oder manchmal auch getragen worden. Aber im apprupt, Mitte Oktober, wird es ruhig auf den Bahnsteigen des kleinen Bahnhofs: keine Kranken mehr, keine Frommen, keine Heilsuchenden - Ende der Saison. Ein Wunder wollen die Pilger miterleben, fünfeinhalb Millionen Reisende in Sachen Religion sind es in manchem Jahr, oder wenigstens mit eigenen Augen sehen, was der Bernadette Soubirous 1858 in der Lourdaiser Grotte Massabielle widerfahren ist. Die heilige Jungfrau, die "Unbefleckte Empfängnis" höchstpersönlich, war der damals Vierzehnjährigen erschienen - bis heute hat sie ihre Spuren hinterlassen.
Gerard Joubert ist für das Wohlergehen derjenigen zuständig, die per Bahn nach Lourdes pilgern. Jetzt hat er ein wenig Zeit. Joubert, goldene Brille, schmales Gesicht, zeigt uns seinen berühmten Bahnhof: die Ankunftshalle für die Kranken, hunderte blaue Rollstühle stehen hier und warten still auf menschliche Fracht, die Gleise für die Züge mit den Kranken, die blauen Busse, die sie zu den Hospitälern fahren. Auf Bahnsteig eins singt vollmundig eine italienische Pilgergruppe das "Ave Maria". Abschied von der heiligen Stadt. Das Lächeln der heiligen Jungfrau hat sich in die Gesichter eingegraben. Und da, ganz hinten, die hochgewachsene Ordensfrau: Selig lächelnd nimmt sie ihr Stückchen Erinnerung an die heilige Jungfrau mit nach Rom oder in irgendeine katholische Kleinstadt in Italien. Nein, viele Beschwerden bekomme er nicht, sagt Joubert, als der Zug mit den Pilgern langsam in den Alltag zurückrollt. Bloß, wenn Schmutz in den Hotelbetten oder auf dem Boden lag oder die Dusche nicht funkionierte. Dann ließen manche ihre Wut bei ihm zurück. Aber Lourdes ist ein sauberes Städtchen, und Ärger hat Monsieur Joubert deshalb nur selten. Aus tausend Eimern gießt es vom Himmel über Lourdes.
Längst schon hat die Dunkelheit das Abendlicht vertrieben. Ab und zu ein Pilger - verspätet hetzt er zur allabendlichen Lichterprozession. Eine Kerze braucht er noch. Die gibt´s im "L´Érmitage", das heißt "Einsiedelei". Seit mehr als 120 Jahren können die Pilger hier ihre religiöse Ausrüstung kaufen: Kerzen, Rosenkränze, Kanister für das Wasser aus den heiligen Quellen, Postkarten für die Lieben daheim. Bereits zum dritten Mal war die Maria der Bernadette Soubirous am 18. Februar 1858 erschienen, als sie der Tochter eines verarmten Lourdaiser Müllers ihre Weisheit vom irdischen Glück verkündete: "Wollen Sie mir die Freude machen, vierzehn Tage zu kommen? Ich verspreche Ihnen nicht, Sie in dieser Welt glücklich zu machen, aber in der anderen." Ob Bernadette Soubirous im Jenseits glücklich geworden ist, weiß man nicht; in dieser Welt allerdings deponierte die Kirche sie hinter den Klostermauern von Nevers, gut 400 Kilometer vom Erscheinungsort entfernt. Unerreichbar für die kritischen Fragen der Weltlichkeit lebte sie dort bis zu ihrem Tod im zarten Alter von 35 Jahren. Den Devotionalien-Händlern, den Hoteliers und den Restaurant-Besitzern von Lourdes hat die Maria unterdessen Glück auf Erden gebracht : Die verdienen seither gutes Geld auf dieser Welt.
Ein Häufchen von gut 200 Gläubigen hat sich im Regen auf dem großen Platz vor der Rosenkranzkirche versammelt, der unteren der drei übereinander gebauten Basiliken. Mitten im Städtchen, zwischen Kitschläden und Cafés, liegt der Ort der Marien-Erscheinung. Das Heiligtum. "Le Sanctuaire", so nennen die Franzosen das Gelände. "Le Sanctuaire", für Manchen ist das der Beweis der exisitierenden Göttlichkeit. Aber bei Regen haben es sogar die Götter schwer. Hektik. Zischend fordern Priester die Versammelten zu Ruhe und zu Ordnung auf. Aber gegen das Prasseln des Regens haben die Kirchenmänner keine Chance. Engelsgesichtig, die kleine Polin. Für ihre Landsleute betet sie. Französisch, englisch, spanisch, italienisch, deutsch drängen die Stimmen durch den Regen, polnisch, wenn Engelsgesicht vors Mikro tritt: "Heilige Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes." Unter den Schirmen wandert Feuer von Kerze zu Kerze. Das "Große Lourdes-Lied", das "Ave Maria", ist in Blau auf die schützenden Papiertrichter gedruckt. Sie sollen verhindern, das heißes Wachs von den Kerzen auf Pilgerhände und auf heiligen Boden tropft. Vier Francs, eine Mark und dreißig, kosten sie im "L´Érmitage". Bei Regen kleben die Papiertrichter an den Kerzen, und die Flammen gehen aus. Bei Regen ist die Messe etwas früher zu Ende.
Der Geist bleibt nicht klar in Lourdes. Die "Stadt der kleinen Leute", wie Kurt Tucholsky den Ort nannte, verlangt dem Pilger ein religiöses Non-Stop-Programm ab. Beten, Beichten, Büßen ohne Pause - keine Zeit für Besinnlichkeit. Der Tagesablauf ist vorgeschrieben, von der ersten Messe um halbacht am Morgen bis zur Lichterprozession um kurz vor neun am Abend. Als Tucholsky in den zwanziger Jahren durch die Gassen der Stadt spazierte, fiel ihm auf: "Es riecht nach Muff, nach unaufgeräumten Schlafzimmern, nach jenem Typus, der in Europa nicht leben und nicht sterben kann, nach kleinem Mittelstand, der nicht weiß, dass er´s ist." Vor einer halben Stunde erst sind die Pilger aus Pfaffenhofen angekommen, gut 30 fromme Leutchen, fast nur Frauen in den Sechzigern. In einem der unzähligen Hotels mit den heiligen Namen sind sie abgestiegen: im "St. Agnes" vielleicht, oder im "Ste. Rose" oder vielleicht auch im "St. Sacrament" in der kleinen Gasse, wo am Abend immer die Spatzen schreien. Geschlafen haben sie kaum während der langen Bus-Reise hierher. Und schon wandern sie durch die Lourdaiser Geschäftsgassen, um pünktlich in der "Chapelle St. Gabriel" im Heiligtum beten zu können. Zwei Mönche trotten vorweg, strahlender Sonnenschein um sechzehn Uhr. Heilige Choräle ergießen sich über das Heiligtum. Himmelsmusik aus grünen Lautsprechern lullt uns ein, die Kathedralen sind aus Zuckerguß. Die "Laudatio Salvatore" vom Band läßt das Gelände schweben. Wer hier ist, kann nicht mehr entfliehen.
Unsere Pilgergruppe aus Pfaffenhofen steht am Rand der Prozession und beobachtet den Zug der Heilsuchenden. Freiwillige Helfer schieben ein Kabinett der Krankheiten in blauen Rollstühlen zum großen Platz vorm Heiligtum. Verzerrte Gesichter, aus Leiden wird Glückseligkeit. Spastiker ziehen vorbei, Epileptiker, Gelähmte - ein Wunder?! Heute vielleicht, endlich, am Ende der Saison, bei strahlendem Sonnenschein? Und manchmal ein irres Grinsen. Verzückt scheint der alte Mann, eine junge Italienerin schiebt ihn vor sich her. Sie tätschelt ihn, beugt sich hinunter, kümmert sich um einen, der wohl meistens in der Ecke steht. Ein wenig Aufmerksamkeit, ein zärtliches Lächeln bloß um die hübschen blauen Augen und ein dankbarer Blick. Hoffnung allemal und Seelenkraft . Ein Schauspiel für die Reisegruppe aus Pfaffenhofen, denn das gibt es auch in Bayern wohl nicht allzu oft zu sehen. Die Tische des "Café Royal" stehen direkt gegenüber dem Eingang zum Heiligtum. Ein exquisiter Platz, Umsatz wird hier im Sommer gemacht, dann ist jeder Stuhl besetzt. Aber jetzt haben sich nur acht Leutchen hierher verirrt, die gelben Aschenbecher auf den Tischen werben für französischen Pastis. Macht ohnehin in zwei Tagen zu, das "Royal". "Was soll ich denn im Winter hier", antwortet der Kellner , nennen wir ihn Christian, auf die Frage des Beobachters, "da gibt´s doch keine Arbeit mehr". Genau wie am Meer sei das mit dem Ende der Saison in Lourdes. Er jedenfalls gehe dann in die Berge, zu den Ski-Fahrern. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet er im "Royal". Jeden Winter verdient er sein Geld in den Pyrenäen. Aber wenn es wieder losgeht in Lourdes, kommt Christian zurück und versorgt die unzähligen Pilgermäuler mit Milchkaffee, Calvados und Hamburgern. Immer das Gleiche. Jedes Jahr.
Im Oktober lassen die Kitschhändler die Jalousien runter, die Cafés schließen und in den Hotels werden die Türen verrammelt. Im April geht alles wieder los. Einmal, erzählt Pater Wolfgang Boemer aus Deutschland, ja einmal, da habe ihn ein Ordensbruder aus den USA besucht. "Gibt es ein Buch über den Mann, der das hier aufgebaut hat?" habe der Amerikaner ihn gefragt. Das sei doch eine geniale Idee gewesen mit der Wallfahrtsstätte. Boemer lacht: "Er dachte, daß jemand die Idee hatte, eine Firma gründete und auf Promotion-Tour ging, um sie zu verkaufen." Pater Boemer vom Orden der "Oblaten der Makellosen Jungfrau Maria" ist seit 1992 "Koordinator für die deutsche Sprache" in Lourdes. "Keine müde Mark hat Rom für das Wunder ausgegeben", ist er sicher, "damals nicht und heute nicht." Alles würden die Pilger selbst bezahlen; mit Spenden und dem Kauf von Büchern und Kerzen. Aber der Pater ist für das Seelenheil seiner Klientel zuständig - und nicht für´s Geld. Auf dem Weg zur heiligen Grotte erhellen gespendete Kerzen das Gelände. Jetzt verrät Boemer, was ihn fasziniert in Lourdes: "Die Kranken erleben hier, daß sie wer sind.Das steigert ihr Selbstwertgefühl." Das wegen der Atmosphäre etwas passieren könne mit dem Körper, meint er, und das der dann in bestimmte Prozesse eintrete: "Geheilt werden besteht ja nicht aus rein körperlichen Vorgängen, sondern vor allem daraus, Kraft für den Alltag zu schöpfen", erklärt Boemer sich und uns die Wunder. Von angeblich 6.000 Kranken-Heilungen seit 1858 hat die Kirche lediglich 65 als Wunder anerkannt. Das wiederum ist wohl kaum verwunderlich, da bekanntermaßen bei einer Inflation unweigerlich der Geldwert sinkt. Vor der Grotte verabschiedet sich der fromme Deutsche. Wir betrachten noch ein wenig die Pilger: wie sie Hände, Handtaschen, Taschentücher an der Wand reiben, über der die Maria einst erschienen ist. Ganz speckig ist der Stein davon geworden. * Das "Florida" liegt in der "Rue de la Reine Astrid". An der mit weißen Laken verdeckten Theke der Hotel-Rezeption kichert noch das Personal. Die Stühle haben sie schon hochgestellt, Decken über die Einrichtung gelegt, damit die Möbel nicht verstauben bis zum nächsten Jahr. Die Fensterläden haben sie geschlossen, und gleich wird Hausmeister Jean Yves die Eingangstür verriegeln. Um die Ecke, im "Golgotha", riecht es nach Seife und nach Essensresten. Mit langen grünen Schläuchen spritzen die Angestellten den Boden der Hotel-Küche ab, das Feuer in den Öfen ist längst ausgegangen. Lourdes verabschiedet sich von seinen Gästen mit Putz- und Desinfektions-mittel.