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Nord-Ontario/Kanada

 

Ruf der Wildnis

 

 

Im Land der Trapper und Fallensteller blühen Kindheitsfantasien wieder auf.

 

Text und Fotos: Eberhard Hahne

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das gleichförmige Rattern der Eisenbahn, die rechts und links vorbeihuschende grüne Wand aus Pappeln und Kiefern läßt die Augenlider schwer werden. Das sanfte Schaukeln des Algoma Train tut sein übriges. Ich habe mich ins Dunkel des hinteren Gepäckwagons zurückgezogen, die Schiebetüren sind weit geöffnet. Glitzernde Seen und Sümpfe blitzen zwischen den Wäldern auf. Der Fahrtwind bläst mir ins Gesicht. „Feel like a hobo“. Woody Guthrie und Bob Dylan haben den imaginären Landfahrer besungen, Mark Twain, Jack London und Ernest Hemingway setzten ihm in ihren Büchern Denkmäler. Die Algoma Train Tour ist der Start einer Reise durch den Norden Ontarios. Die zweitgrößte Provinz Kanadas ist etwa so groß wie Frankreich und Spanien zusammen. Die zwölf Millionen Einwohner leben hauptsächlich in den Metropolen Toronto und Hamilton im Süden. Der Rest der Provinz ist nahezu menschenleer. Station Meile 114. Das scheinbar endlose Waldszenario ist zerklüfteten Schluchten gewichen, einem Teil des Kanadischen Schilds, der größten Granitplatte der Erde. Der Agawa Canyon, die Attraktion der Zugtour, lädt zu einer willkommenen zweistündigen Pause ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Ein Tal wie aus dem Bilderbuch. Wasserfälle ergießen sich über die hohen Granitwände, die senkrecht bis zu 170 Meter in den Himmel ragen. Die Wiesen blühen und die Bienen summen. Ich lasse meine Füße im gurgelnden Agawafluss baumeln und schaue auf das verwitterte Stationshäuschen mit dem ausrangierten Wildwestwagon. 1899 wurde die Trassen des Alogma Train durch die Wildnis verlegt. Nach weiteren 50 Meilen folgt ein kurzer Stopp an der Hawk Junction. Angler in Tarnkleidung verstauen ihre Ausrüstung und steigen zu. Straßen gibt es in den Weiten Nordontarios kaum. Nur Quads oder Jeeps bewältigen die sandigen Verbindungswege. Stopp Meile 206, Nun stehe ich alleine in der stillen Weite des Chapleau Game Preserve, dem größten Tierreservat der Welt. Ein Schild am Ufer des Wabatongushi-Sees zeigt mir in verblassten Lettern, dass die erste Etappe der Ontarioreise nicht mehr fern ist: „Errington´s Wilderness Islands”.

 

Al Errington baute 1975 ein zweistöckiges Blockhaus in dieses touristische Niemandsland. Über die Jahre folgten 16 Holzhäuser, verteilt auf die Nachbarinseln. Einige Mückenstiche später bringt mich Ivan, eindeutig ein Indianer, mit dem Motorboot zum Gästehaus. Jawohl, so habe ich es mir gewünscht. Natur pur. Das Abendlicht reflekiert rötlich auf den blanken Stämmen der Errington Lodge. Zwei Weißkopfadler kreisen am Himmel. Etwas abseits des Haupthauses beziehe ich ein kleines, aber komfortables Blockhaus. Ein Bootssteg mit Motorboot gehört dazu. Ein Trapper- und Fallenstellergefühl macht sich breit. Dass es um die Ecke hervorragenden selbstgebackenen Apfelkuchen gibt, macht die Sache nur noch angenehmer. Mit Ivan begebe ich mich früh am nächsten Morgen auf Angel- und Bärentour. Der Außenboarder durchschneidet den morgentlichen Nebel auf der spiegelglatten Oberfäche des Wabatongushi-Sees.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Ivan Madahbee war Chief des Aniishnabek Ojibway Stammes (politisch korrekt First Nations). Sein Name bedeutet: „Der, der schwere Lasten trägt”. Mit Pfeifgeräuschen versucht der immer gut gelaunte 76-Jährige erfolglos einen Elch aus dem dichten Wald zu locken. Auch meine Angelbemühungen scheitern. Erfolgreicher ist das Bärengucken. Mutter Schwarzbär und ihre ein- und zweijährigen Jungen tummeln sich auf einer Landzunge. „Sie bekommen die Küchenabfälle der Lodge. Dies hält sie vom Haus fern und unsere Gäste freuen sich“, erklärt mir Chief Ivan. Wir tuckern gemächlich weiter in der Hoffung, Biber, Elch oder Otter zu erspähen. Die endlos erscheinenden Schilffelder wiegen sich im Wind. Ich lerne Pflanzen kennen, die von Ivans Stamm als Medizin genutzt wurden und dass Schwarzbären das süßlich bittere Harz der Kiefern lieben. Schnell verliere ich die Orientierung zwischen den vielen Inseln (es sollen 70 sein). Der Wabatongushi-See ist mit einer Ausdehnung von 25 Meilen einer von 400 000 Seen und Flüssen Ontarios. 20 Prozent des weltweiten Oberflächensüßwassers befinden sich hier. Nach den bedenkenlosen Umweltsünden der 1950/60er Jahre ist der Provinzregierung klar geworden, welchen ökologischen Wert der immense Wasservorrat birgt. Das North Sience Museum in Sudbury, widmet sich diesem Problem.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit einem kleinen Wasserflugzeug, einer Cesna 180, landen wir waghalsig auf einem See im Herzen der größten Stadt Nordontarios, zwischen Luftmatratzen und Ruderbooten. Das am See gelegene Sience North ist ein aufwendig gestalteter Museumkomplex mit Biosphärenpark und Imax Theater. Erwachsene und Kinder werden hier didaktisch vorbildlich über das sensible Ökosystem der Seen Ontarios aufgeklärt. Trotz ihrer Größe waren sie durch Aquakulturen und Industrieabfälle stark belastet. Anders als Flüsse regenerieren sich Seen nur alle 40 bis 50 Jahre.

Nach soviel Zivilisationsproblematik bin ich froh, nach einigen Stunden Busfahrt wieder zurück in der Natur zu sein. Es ist erstaunlich, wie schnell das intensive Naturerlebnis einen gefangen nimmt. Wenn man mehrere Stunden allein im Boot verbacht hat, in der Hoffnung auf einen hungrigen Fisch oder einen auftauchenden Otter, stellt sich ein inneres Gleichgewicht ganz von alleine ein. Die Pine Cove Lodge am French River wird mich für die nächsten zwei Tage beherbergen. Alex Strachan, englischstämmiger Betreiber der Lodge, führt mich nach einer herzlichen Begrüßung zu einem Holzhaus. Es liegt auf einer Klippe, ein Flaggenmast mit der roten Ahornflagge steht vor der Veranda. Dahinter der See mit seinen Buchten und Inseln. Man spürt hier die Nähe zu Toronto, der Hauptstadt Ontarios, die dreieinhalb Stunden Autofahrt entfernt liegt. Während der Wabatongushi-See kompromisslose Wildnis vermittelt, ist der French River ein beliebtes Outdoorziel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Familie Strachan baute die Lodge nach einem Brand im Stil des Orginals aus den goldenen 30er Jahren wieder auf. Polierte Holzböden aus Redwood, Billiardtisch, großformatige Kunst über dem Kamin aus Flusskieseln und Thailändisches zum Dinner, vermitteln Gediegenheit. Mit dem Motorboot begleite ich Alex zum Little French River. Seinen Namen verdankt das System aus Flüssen und Seen den französischen Händlern und Forschern der Pionierzeit. Stromschnellen, steile Felswände und moosbedeckter rötlicher Granit begleiten unseren Weg. Über uns rauscht der Wind sanft in den Wipfeln der weißen Kiefern. Während wir über die alten Waldwege der Indianer und Trapper wandern, fühle ich mich wie Chingachgook, der letzte Mohikaner. Alex klärt mich auf über die merkwürdigen Inukshuk, Steinhaufen, welche den Indianern als Wegweiser und Warnhinweis dienten. Er zeigt mir Poison-Ivy und Poison-Oak, unscheinbare Bodengewächse, die bei Hautkontakt zu schmerzhaften Schwellungen und Ausschlägen führen.Das letzte Ziel der Ontarioreise, die Gregorian Bay, liegt drei Autostunden entfernt, Richtung Toronto. Am  nördlichen Teil der Gregorian Bay, Teil des riesigen Lake Huron, liegt die Killarney Mountain Lodge. Meine Gastgeber, Maury East (80) und seine Familie, führen das großzügige Resort seit mehr als 40 Jahren. Durch eine Holzbrücke vom verschlafenen Örtchen Killarny getrennt, präsentiert sich die Anlage mit beheiztem Pool, Sauna, zwei großen Speisesälen und Barpavillion. Es werden geführte Wander-, Kanu- und Kajaktouren, Mal- und Fotografiekurse angeboten. Für den nächsten Tag entscheide ich mich für eine geführte Wanderung auf die weißen Quarzitfelsen des „The Crack“.

 

Durch die lauschigen Pappel- und Kiefernwälder, vorbei an stillen Seen, und einer abschließenden Klettertour über Stock und Stein erreichen wir nach zwei Stunden den höchsten Punkt des Quarzitfelsens. Ein atemberaubender Ausblick auf das Ultramarinblau der umliegenden Seen, das mit weißen Kalkfelsen besprenkelte Dunkelgrün der La Cloche Mountains überdacht vom Azurblau des Himmels lassen verstehen, warum es soviele Maler und Fotografen hierher zieht. Auch mein 4GB Kamerachip ist inzwischen gefüllt mit eindrucksvollen Naturaufnahmen. Meine Seele ist randvoll mit Erlebnissen und Begegnungen, ganz zu schweigen vom Aufblühen meiner Kindheitsfantasien von Hobos, Trappern und Indianern.

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